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Warum eine Reform der Wochenarbeitszeit notwendig ist

  • Demografischer Wandel

Geschlechtergerechtigkeit ist einer der zentralen Bausteine für eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung. In Deutschland gibt es nach wie vor viele Hindernisse und Herausforderungen, die diesem Ziel im Weg stehen. Dazu gehört der Gender Care Gap, ein wichtiger Faktor für Gleichstellung, der angibt, wie viel mehr Zeit Frauen für unbezahlte Arbeit wie Kochen oder Haushaltsführung aufbringen. Laut Daten des Statistischen Bundesamts leisteten Frauen in Deutschland 2022 44,3 Prozent mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Frauen verbringen außerdem fast doppelt so viel Zeit mit Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen als Männer, obwohl heute viele Frauen zusätzlich berufstätig sind.

Gleichzeitig altert die Gesellschaft insgesamt, was zur Folge hat, dass der Pflegebedarf in Deutschland kontinuierlich steigt. Bereits heute fehlen im Pflegebereich Fachkräfte und der Bedarf wird in den kommenden Jahrzehnten noch wachsen. Eine bessere Verteilung von notwendiger Pflegearbeit kann nicht nur zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen, sondern wäre auch ein Schritt in Richtung mehr demografischer Resilienz der Bevölkerung: Demografische Resilienz bezeichnet die Fähigkeit einer Bevölkerung, sich an demografische Veränderungen anzupassen und Herausforderungen zu bewältigen. Wenn Männer bei der Pflegearbeit genauso viel Verantwortung übernehmen wie Frauen, kann dem größeren Bedarf, der in Zukunft auf uns zukommt, besser begegnet werden.

Nach wie vor große Geschlechterunterschiede in der Erwerbsarbeitszeit und unbezahlten Arbeit

In Deutschland gilt ein Vollzeitjob mit 38 bis 40 Wochenarbeitsstunden weiterhin als Norm, obwohl der Anteil an Teilzeitarbeitenden in den letzten Jahren gestiegen ist und heute so hoch ist wie nie zuvor. Hier zeigen sich große Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Während 2023 jede zweite Frau in Teilzeit arbeitete, waren es bei den Männern nur 13 Prozent. Bei Eltern zeigen sich noch größere Ungleichheiten: Nur knapp zehn  Prozent der Väter arbeiten in Teilzeit, aber zwei Drittel der Mütter.

Wie die vor kurzem veröffentlichte Zeitverwendungserhebung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2022 zeigt, besteht die Arbeit von Frauen zu mehr als zwei Dritteln aus unbezahlter Arbeit – bei Männern macht unbezahlte Arbeit weniger als die Hälfte der gesamten Arbeitszeit aus. Neben der Erwerbsarbeit viel unbezahlte Care-Arbeit und Haushaltsaufgaben zu stemmen, stellt nicht nur eine langfristige Belastung dar. Bereits heute fühlt sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung dauerhaft erschöpft. Durch die ungleiche Arbeitsverteilung in heterosexuellen Partnerschaften entstehen zudem oft auch ein finanzielles Ungleichgewicht und eine einseitige Abhängigkeit. Geringere Rentenbeitragszahlungen erhöhen auch die Gefahr von Altersarmut, von der Frauen deutlich stärker betroffen sind als Männer.

Arbeitszeitumverteilung als Chance für mehr Geschlechtergerechtigkeit

Eine Möglichkeit, bessere Rahmenbedingungen für eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit zu schaffen, ist die Vier-Tage-Woche – also eine neue Vollzeit in der Erwerbsarbeit. Dabei würde die wöchentliche Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn reduziert. Pilotprojekte aus Ländern wie Spanien und Großbritannien zeigen erfolgsversprechende Ergebnisse: Die Arbeitnehmer:innen fühlten sich insgesamt weniger gestresst, hatten mehr Zeit für sich selbst, ihre Familien und Freund:innen. Zudem waren sie ausgeruhter, motivierter und fehlten seltener. Auch die Produktivität am Arbeitsplatz ließ nicht nach, sondern stieg in einigen Fällen sogar an.

Die Vorteile einer neuen Vollzeit wären für Frauen zum einen eine erhöhte berufliche Teilhabe durch bessere Aufstiegs- und Karrierechancen. Bisher erfahren Frauen einen Nachteil, da Führungspositionen oft nur an Vollzeitarbeitende vergeben werden. Dadurch könnte sich der unbereinigte Gender Pay Gap (der Verdienstabstand pro Stunde zwischen Frauen und Männern) verringern, der derzeit immer noch bei 18 Prozent liegt.

Weniger Erwerbsarbeit – trotz Fachkräftemangel?

Vonseiten der Politik wird häufig argumentiert, dass man sich in Zeiten des Fachkräftemangels keine Arbeitszeitverkürzung leisten könne. Wenn durch eine neue Vollzeit Männer durchschnittlich weniger und Frauen (in Teilzeit) mehr arbeiten würden, wäre die Verkürzung der Vollzeit jedoch eher eine Arbeitszeitumverteilung. Relevant dafür wäre auch, dass Männer in diesem Zuge mehr Haushalts- und Care-Arbeit übernehmen.

In Sektoren wie der Pflege, in denen oft schlechtere Arbeitsbedingungen und geringere Löhne herrschen als in anderen Berufsgebieten, gibt es außerdem einen großen Teil von ehemals Beschäftigten, die sich vorstellen könnten, zurückzukommen, wenn sich die Bedingungen verbessern würden, zum Beispiel in Form einer verkürzten Arbeitswoche. Auch aus diesem Grund ist es notwendig, über eine Reform der Arbeitszeit zu sprechen, um auf demografische Entwicklungen zu reagieren.

Eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit, wie sie Modelle wie die Vier-Tage-Woche beinhalten, führt nicht automatisch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Auch wird sich die ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit dadurch nicht beheben lassen. Sie ist jedoch eine wichtige Voraussetzung dafür und kann den Rahmen für weitere Veränderungen schaffen. Weniger Erwerbsarbeit bedeutet nicht nur mehr Zeit für Sorge-Arbeit, sondern auch mehr freie Zeit für persönliche Erholung, soziale Kontakte sowie ehrenamtliches Engagement. Zudem könnten strukturelle Veränderungen in der wöchentlichen Arbeitszeit Pflegeberufe attraktiver machen und dazu beitragen, demografische Veränderungen besser zu bewältigen.

Ansprechpartner:innen

Nele Disselkamp

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Telefon: 030 - 31 01 73 24

E-Mail schreiben: disselkamp@berlin-institut.org

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